Hotel Waldhaus Sils-Maria (GR)

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Das knapp drei Jahre nach Baubeginn am 15. Juni 1908 eröffnete Hotel Waldhaus in Sils-Maria entstand als Resultat einer intensiven Diskussion zwischen Hotelier Josef Giger, seiner Ehefrau Amalie und dem Architekten Karl Koller. Nach etlichen Jahren als Direktor von grossen Luxushotels mit fremden Eigentümern erachtete der 58-jährige Giger sein neues Hotel gewissermassen als Lebensziel. Für den Standort auf dem bewaldeten Hügel über Sils-Maria hatte er sich entschieden, nachdem er drei Bauplätze in die nähere Auswahl gezogen hatte: neben Sils auch das Suvretta-Gebiet und den Berghang oberhalb von Silvaplana.

Der Standort des neuen Hotels war von symbolischer Bedeutung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt ein entfernt von Ortschaften gelegenes Hotel als eine besonders geschätzte Luxusoase, die den sozialen Unterschied zu den Einheimischen baulich klar zum Ausdruck brachte. Wie in der geschlossenen Welt eines Ozeandampfers bot ein solches Hotel seinen Gästen alles an, was sich diese während ihres Aufenthalts nur wünschen konnten.

Das Besondere am Hotel Waldhaus in Sils-Maria lag zur Bauzeit nicht an seiner Grösse (im Oberengadin gab es damals bereits grössere Hotels), sondern an seiner imposanten Erscheinung sowie an seiner präzisen Planung und Ausführung. Mit akribischer Sorgfalt und enormer Fachkenntnis wurde alles bis ins letzte Detail festgelegt, von der extravaganten Hügellage über die betrieblich optimale Raumanordnung bis zur Grösse und zur Form des Essbestecks. Aus der dreijährigen, fruchtbaren Zusammenarbeit ist kein Bauwerk entstanden, das mit den Schaufassaden der eleganten Hotelpaläste in St. Moritz wetteiferte, sondern eine «Burg» als Kontrast zu deren Prunk und Luxus.

Bei der Fassadengestaltung distanzierte sich der Architekt vom überbordenden Formenreichtum des um 1901 von ihm entworfenen Park Hotel in Vitznau oder von der erdrückenden Monumentalität seines Grand Hotel in St. Moritz, das bei Planungsbeginn in Sils gerade vollendet war. Beim Entwurf wurde Koller bereits von den Gedanken des jungen Heimatschutzes beeinflusst, die den Architekten einen Rückgriff auf traditionelle, bewährte Materialien und auf regionale Bauformen nahe legten. So ist die «Burg» auf dem Hügel eigentlich nur eine symbolische Geste. Auf seiner ostseitigen Hauptfassade präsentiert sich das Hotel Waldhaus vielmehr als sechsstöckiges «Haus» mit ausgebautem Mansartdach und Blendgiebel in der Mittelachse sowie Eckrisalit auf der Südseite. Erst beim Übergang zur Nordseite, wo das Gelände steil abfällt, mutiert das «Haus» zur «Burg» mit einem massiven, zinnenbekrönten Nordostturm und einem eleganten Rundturm mit Spitzdach in der Nordwestecke.

Auch bei der Ausstattung offenbart sich die Weiterentwicklung von der überschwänglichen Formensprache der Belle Époque aus dem späten 19. Jahrhundert zur schlichteren Ausprägung am Anfang des 20. Jahrhunderts. Anschaulichstes Beispiel dafür ist der Empire-Salon (Musiksalon) im filigranen Empirestil, bei dem – in den Stuck-Rocaillen über der Tür – noch die letzten Töne der Belle Époque ausklingen. Im Waldhaus steht nicht der Dekor, sondern die Echtheit der Materialien im Vordergrund. Mit wenigen dekorativen Mitteln und einer restriktiven Materialwahl trachtete der Architekt nach einem maximalen Effekt. Für Böden und Wände kam grundsätzlich Eichenholz zur Anwendung; wertvollere Täfer, beispielsweise im ehemaligen Lesesalon (heute Bar), erhielten Nussbaumholz, und nur im Empire-Salon griff man zum Mahagoniholz.

Das Waldhaus ist eines der wenigen Schweizer Hotels, die in ihrer Konzeption bis heute dem Geist der seinerzeitigen Gründer verpflichtet blieben. Es ist auch als eines der ganz wenigen Fünfsternhäuser seit der Eröffnung stets im gleichen Familienbesitz. Waren es früher zum Teil einfach die fehlenden Finanzen, so ist es in neuerer Zeit die überzeugte Anerkennung der ursprünglichen Werte durch die Eigentümerschaft, die das Haus im Wald zu einem aussergewöhnlichen Original machen. Nicht nur das Äussere entspricht vorwiegend dem historischen Bestand (der Südflügel im Zustand von 1927), auch im Innern finden wir eine erstaunlich originalgetreue Ausstattung: von der mehrheitlich erhaltenen Zimmereinteilung über das originale Treppenhaus sowie die ursprünglichen Korridore und Säle im Eingangsgeschoss bis zu den mit Originalmobiliar wieder hergestellten Gästezimmern. Sogar die Umbauten aus dem dritten Viertel des 20. Jahrhunderts, andernorts oft rücksichtslos im Umgang mit der historischen Architektur, integrieren sich im Waldhaus ohne massive Störung ins Gesamtwerk. Die neusten architektonischen Zutaten bilden eine eigenständige, aber diskrete Bereicherung in der Gestaltung.

Gigers Ziel war es nach eigenen Angaben, ein Werk «für seine Kinder» zu schaffen, ein Werk also, das auf Kontinuität setzte und damit auf inneren Qualitäten und menschlichen Werten aufbaute. Nach diesem Leitsatz hat er ein Fundament gelegt, auf dem die Familie Kienberger das Haus behutsam weiterentwickeln konnte. Das heutige familiäre Dreigestirn in der Leitung brachte das Waldhaus mit Fachwissen, Kompetenz und Innovation zur grössten Blüte in seiner Geschichte. Die Auszeichnung zum «Historischen Hotel des Jahres 2005» durch die Jury von Icomos, dem internationalen Rat für Denkmalpflege, bedeutet die verdiente Anerkennung für dieses aussergewöhnliche Engagement.

(Text aus: FLÜCKIGER-SEILER ROLAND. Hotel Waldhaus, Sils-Maria. [Schweizerische Kunstführer GSK, Serie 78, Nr. 779-780] Bern 2005.